Ein Marathon als Kampfansage
Ein saftiger Burger. Das wird unsere Belohnung sein. Vier, fünf Stunden rennen und dann: Angus Beef, von Freilandrindern, die kein anderes Futter kennen als das sattgrüne Gras auf Irlands Weiden. Speck, Mayonnaise, vielleicht ein Spiegelei.
Eyes on the price. Englisch für «Fokus auf die Belohnung». Unser Motto, wenn wir rennen.
Kilometer 0: Pop und Kniebeugen
Wir stehen hinter einem Absperrband. Es ist Mitte Mai, Halbmarathon in St. Gallen. Hunderte Läuferinnen und Läufer um uns herum in violetten T-Shirts. Musik dröhnt aus Lautsprechern. Dazwischen animiert eine Stimme die violette Masse zu Kniebeugen. Typisch nasaler Ostschweizer Dialekt. Kniebeugen vor einem Halbmarathon – im Ernst jetzt?
Es ist Samuels erster Halbmarathon. Ich, 25 Jahre alt, renne die Distanz zum zweiten Mal. Doch in diesem Text geht es um ihn, meinen Freund. Um Samuel, 28 Jahre alt, den ich praktisch mein ganzes Leben kenne. Und der mich überredet hat, mit ihm diesen Herbst den Marathon in Dublin zu rennen.
Samuel hat Cystische Fibrose – CF. Eine Genkrankheit, abgekürzt mit zwei Buchstaben. Zwei Mutationen auf dem siebten Chromosom. Eine vom Vater, eine von der Mutter. CF lässt ihn schwerer atmen, leert seine Nährstoffspeicher, macht ihn anfällig für Bakterien und Viren. Trotzdem war er es, der uns für die Marathon-Lotterie angemeldet hatte.
10. November 2022, Samuel schreibt auf Whatsapp: «Ich habe uns mal eingetragen für die Lotterie in Dublin. Wenn wir beide einen Startplatz bekommen, können wir uns ja immer noch überlegen, ob wir gehen wollen.»
Acht Tage später bekomme ich eine Mail: «Gratuliere, Sie haben sich einen Startplatz gesichert.» Samuel hat dieselbe erhalten. Natürlich überlegt er nicht. Er will rennen. 42,195 Kilometer. Ich willige ein.
Kilometer 5: Er steigert, ich bremse
Der Startschuss fällt. 21,087 Kilometer vor uns, 400 Höhenmeter. Wir rennen Richtung Gübsensee, hängen uns dem Pacemaker zwei Stunden zehn Minuten an. Samuel beschleunigt auf den Geraden, drückt unseren Schnitt auf unter sechs Minuten. Zu schnell, denke ich. Genau richtig, sagt er.
Mit eins hat Samuel seine erste Lungenentzündung. Er bricht beim Spazieren ums Haus zusammen. Die Notärztin vermutet ein gröberes Lungenproblem. Röntgen beim Kinderarzt, keine Diagnose, dafür sein erster Inhalator «Baby-grösse».
Samuel ist ständig krank. Seine Eltern verzweifeln, irren von einem Arzt zum nächsten. «Ihrem Sohn geht’s gut», hören sie häufig. Seine Krankenakte ist bald so dick wie der erste Band von «Harry Potter». Eine neue Hausärztin überweist ihn ans Kinderspital. Erneute Untersuchungen – und diesmal eine Diagnose: CF, auch Mukoviszidose genannt.
Als ich zum ersten Mal mit Samuels Krankheit in Berührung komme, bin ich sechs, er zehn Jahre alt. Sommer 2004, Zeltlager in der Lenzerheide. Meine Mutter ist mitgekommen, um für das Lager zu kochen. Ich suche sie eines Morgens, schlüpfe in ein Zimmer, das wir Kinder nicht betreten sollen. Samuel steht neben der Tür, presst eine Röhre gegen den Mund. Meine Mutter hinter ihm. Zu Hause hatte ich denselben Inhalator, wegen meines Asthmas. Ich freue mich über die Gemeinsamkeit mit diesem Jungen, der viel älter ist als ich. Doch etwas an der Szene signalisiert mir, dass ich gehen und schweigen sollte.
Zu Hause knallt Samuel seinen Inhalator oft gegen die Wand. Er hasst seine Krankheit, will wie alle anderen Kinder ins Hallenbad gehen, bei Sportturnieren mithalten können. Die Familie ist ohnmächtig.
Kilometer 11: Das Schlimmste kommt noch
Über 80 Prozent der CF-Betroffenen in der Schweiz haben die gleiche Mutation. Samuel gehört nicht dazu. Und so ist unklar, wie seine Krankheit verlaufen wird. Bisher glücklicherweise mild. St. Galler Innenstadt. Auf dem roten Platz tummeln sich die Zuschauenden. Ein kleiner Junge bläst durch eine Trompete. Kinder strecken die Hände nach den Laufenden aus, wir schlagen ein. Die Pulsuhr zeigt Kilometer 11, unser Schnitt immer noch knapp unter sechs Minuten. Die meisten Höhenmeter kommen noch.
Am 4. Juli 2019 liege ich im Bett meines WG-Zimmers und kann nicht schlafen. Samuel ist noch nicht nach Hause gekommen, er hat heute an einem Bankett gearbeitet. Draussen höre ich einen Krankenwagen. Mein Kopf entwirft düstere Szenarien, die ich nicht aushalte. Um 1:33 Uhr schreibe ich ihm: «Bist du okay?»
Er, neun Minuten später: «Ich bin im USZ.» USZ für Unispital Zürich. Nächste Nachricht: «Kreislaufkollaps.» Ich bestelle ein Taxi. Er liegt in der Notaufnahme, kann nicht sprechen. Sein Kalium ist im Keller, er bekommt eine Infusion. Der Arzt sagt, bald hätten seine Nieren versagt.
Kilometer 17: Zickzack-Tortur
Berg-und-Tal-Fahrt an der Sitter. Meine Beine schmerzen. Bald kommt der längste Aufstieg des Rennens: Im Zickzack hoch zum Open-Air-Gelände. Ich packe einen Schoko-Haferriegel aus, Kohlehydrat-Booster. Am Hang eine Gruppe Trommler. Wir konzentrieren uns auf ihren Takt. Bloss nicht gehen.
Samuels Mutter sagt, sie hätte nie gedacht, dass Samuel jemals einen Marathon rennen wird. Bis sie uns letzten Herbst auf einem Video
am Schlosslauf Rapperswil sah. Zehn Kilometer unter 55 Minuten.
Dieser Wille, der den physischen Grenzen trotzt. Ich, die Vorsichtige, Kalkulierte, renne mit niemandem so schnell wie mit ihm.
Kilometer 21: ein gutes und ein schlechtes Foto
Im Frühling dieses Jahres spricht Samuel an einem Podium mit anderen CF-Betroffenen. Thema: «Was man trotz oder mit CF schaffen kann.» Die Moderatorin fragt nach positiven Effekten der Krankheit. Samuel sagt als Einziger: «Ich suche nicht das Positive. Ich wäre lieber gesund.»
Wir rennen entlang des Fussballfeldes im St. Galler Stadion. Zielgerade. Später werden uns die Fotos dieses Moments geschickt. Ich mit geschlossenen Augen, ausgelaugt nach Luft schnappend. Samuel lächelt. Zu seiner Antwort auf die Frage am Podium fügte er noch an: «Aber wenn ich die Ziellinie überquere, ist es, als hätte ich einen Sieg gegen CF errungen.»
Diesen Sieg feiern wir mit einem Bier im Ziel. In Dublin würden uns noch 21,087 Kilometer fehlen. Dafür Burger und Guinness – statt Schützengarten und Farmer. Eyes on the price.