Wie menschliche Nähe die Gesundheit positiv beeinflussen kann, weiss Yvik Adler, Psychotherapeutin und Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP).
Nicht jeder Mensch braucht gleich viele soziale Kontakte, aber ganz ohne geht es nicht. Wie sehen Sie das?
Yvik Adler: Beziehung und Bindung sind menschliche Grundbedürfnisse, die genauso wichtig sind wie Essen und Schlafen. Aus entwicklungspsychologischen Erkenntnissen wissen wir, dass die Qualität der Bindung in einer frühen Lebensphase für die kognitive und psychische Entwicklung von Kindern entscheidend ist. Studien aus der Bindungsforschung zeigen, wie verheerend sich Vernachlässigung auf die spätere Entwicklung von Heimkindern auswirkt.1 Bindung und Zuwendung sind für Kinder sogar von existenzieller Bedeutung. Zu dieser Erkenntnis kam der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. schon im Mittelalter. Um herauszufinden, welches die ursprüngliche Sprache der Menschheit ist, trennte er Neugeborene von ihren Müttern und übergab sie Pflegerinnen. Diese sollten sie nähren und baden, jedoch nicht liebkosen oder zu ihnen sprechen. Sein Versuch scheiterte; ohne die Zuwendung und Berührung der Pflegerinnen starben die Kinder.2 Im Erwachsenenleben kann das Bedürfnis nach Beziehungen stark variieren.
Wie wirken sich gute Beziehungen auf die Psyche aus?
Beziehungen sind für die psychische und kognitive Gesundheit des Menschen von zentraler Bedeutung. Mehr noch, verlässliche Beziehungen sind eine sehr wertvolle Ressource und können vor psychischen Erkrankungen schützen. Menschen, die sozial gut eingebunden sind, können mit Schicksalsschlägen wie einer schweren Erkrankung besser umgehen. Allerdings können soziale Kontakte auch Stress, Angst und Aggressionen auslösen. Das trifft besonders in Situationen von räumlicher Enge zu, wie wir sie während des Lockdowns in der Corona-Krise erlebt haben.
Inwiefern hat dies Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit?
Zwischen Körper und Psyche besteht eine Wechselwirkung. Körperliches Leiden wie chronische Schmerzen kann zum Beispiel Depressionen auslösen. Umgekehrt kann negativer Stress auf den Magen schlagen, einen Herzinfarkt auslösen oder andere Krankheiten hervorrufen. Eine psychische Erkrankung kann auch zu einem schädigenden Gesundheitsverhalten wie Substanzmissbrauch, falscher Ernährung oder Bewegungsmangel führen.
Haben sozial gut integrierte Menschen eine höhere Lebenserwartung als einsame?
Einsamkeit ist eines der schlimmsten Gefühle der menschlichen Existenz. In einer grossen Meta-Analyse konnten Forschende nachweisen, dass soziale Integration der wichtigste Einflussfaktor für ein langes Leben ist, sogar noch vor Faktoren wie «Nichtrauchen», «mässiger Alkoholkonsum», «sportliche Betätigung» oder «kein Übergewicht». Zum selben Schluss kam die Psychologin Susan Pinker, die untersuchte, warum ein Dorf in Sardinien die höchste Dichte an über 100-Jährigen aufweist. Sie konnte aufzeigen, dass Menschen mit einem verlässlichen sozialen Netz eine höhere Lebenserwartung haben als Einsame. Dies betrifft sogar Menschen, die nicht besonders gesundheitsbewusst leben.4
Aus Angst vor Atemnot ziehen sich lungen- und atemwegserkrankte Menschen oft zurück. Was kann ihnen auch in Ausnahmesituationen wie der Corona-Krise helfen?
Für diese Menschen ist eine Bedrohungssituation wie die Corona-Krise besonders gravierend. Sie befinden sich schon permanent in einem hohen Erregungszustand, denn die Angst zu ersticken, ist eine grosse psychische Notlage. Ganz wichtig ist es, dass sie sich eine Tagesstruktur schaffen und Rituale einbauen, die ihnen Kraft geben. Also jeden Tag etwas unternehmen, das Freude macht. Sich an glückliche Momente im Leben erinnern, wie zum Beispiel Fotos von den letzten Ferien oder den Lieblingsfilm anschauen.
1. Vgl. Grossmann, K.E. (2019). Theoretische und historische Perspektiven der Bindungsforschung, S. 21–41. In: Ahnert, L. (Hrsg.). Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. 4. Auflage. München/Basel: E. Reinhardt Verlag.
2. Vgl. Horst, E. (1975). Friedrich der Staufer – eine Biographie. Düsseldorf: Claassen-Verlag.
3. Vgl. Holt-Lunstad, J.; Smith, T.B.; Layton, B. (2010). Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review, https://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed…;
4. Vgl. Hümbelin, O.: Das Geheimnis eines langen Lebens, unter: www.knoten-maschen.ch/das-geheimnis-eines-langen-lebens/ (14.05.2020).
5. Vgl. Christakis, N. A. ; Fowler, J. H. (2008). The Collective Dynamics of Smoking in a Large Social Network. The New England Journal of Medicine, 358, S.2249–2258.