«Niemand braucht mehr Angst vor Atemnot zu haben»
Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und gilt als einer der führenden Palliativmediziner Europas. Mit seinen beiden Büchern «Über das Sterben» und «Selbst bestimmt sterben» machte er ein breites Publikum auf die Wichtigkeit von Palliative Care1 aufmerksam.
Der Tod betrifft uns alle. Wie kann man sich darauf vorbereiten?
Gian Domenico Borasio: Man muss sich nicht unbedingt auf den Tod vorbereiten, jeder Mensch entscheidet selbst, ob er dies tun möchte. Aus meiner Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass die meisten Menschen so sterben, wie sie gelebt haben. Ein gutes Leben zu führen, ist deshalb die beste Vorbereitung auf das Sterben. Hilfreich kann es zudem sein, sich vernünftige Informationen über die Möglichkeiten der Palliative Care zu beschaffen – nicht, dass man aus den falschen Gründen Angst vor dem Sterben hat.
Welches sind häufige, unbegründete Ängste?
Gerade Menschen mit Lungen- oder Atemwegserkrankungen haben oft Angst vor Atemnot. Dieses ist das wichtigste und schlimmste Symptom in der Palliativmedizin, noch schlimmer als der Schmerz. Denn keine Luft zu bekommen, vermittelt das Gefühl einer unmittelbaren, existenziellen Bedrohung. Die daraus resultierende Panik verstärkt die Atemnot weiter – es entsteht ein Teufelskreis. Heute gibt es jedoch sehr gute Behandlungsmöglichkeiten; es braucht also niemand mehr Angst vor Atemnot zu haben.
Wie lässt sich Atemnot lindern?
Neben dem Einsatz von Medikamenten gibt es eine ganze Reihe von hilfreichen, nicht pharmakologischen Massnahmen. Eine gute Information hilft Betroffenen, nicht sofort in Panik zu geraten, genauso wie die Konzentration darauf, langsam und ruhig auszuatmen. Auch ergotherapeutische Massnahmen zur Erleichterung des Tagesablaufs, Krankengymnastik, Atemtherapie, Entspannungsübungen und frische Luft können hilfreich sein, ebenso wie eine richtige Lagerung oder –wenn medizinisch indiziert– eine Sauerstofftherapie. Besteht trotz dieser Massnahmen Atemnot, hilft vor allem das Verabreichen von Morphin2, und zwar nicht nur in der Sterbephase. Leider wird Morphin noch zu wenig eingesetzt.
Warum?
Zum einen ist da die Angst vor einer Sucht, die allerdings bei Menschen, die an einer zum Tode führenden Krankheit leiden, längst widerlegt ist. Zum anderen befürchten viele Ärzte, dass die Behandlung mit Morphin zu einer tödlichen Verminderung des Atemantriebs führt. Dieses Gerücht hält sich hartnäckig, obwohl die ersten Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit von Morphin bei Atemnot aus dem Jahr 19933 stammen und seither viele weitere Daten hinzugekommen sind. Ich plädiere dafür, dass Betroffene stets eine Dosis Morphin für den Fall einer Atemnotattacke zur Verfügung haben. Denn allein das Wissen, dass Medikamente verfügbar wären, wirkt in vielen Fällen so beruhigend, dass deren Einsatz gar nicht nötig ist.
Palliative Care beschränkt sich nicht nur auf physische Symptome. Was hilft Menschen mit einer lebensbedrohlichen Krankheit noch?
Palliative Care kümmert sich intensiv um die psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse der Patienten und ihrer Familien. Dabei geht es auch darum, eigene Ressourcen aufzuspüren, welche die Lebensqualität der Betroffenen verbessern können. Neuere Forschungsdaten betonen die Bedeutung von positiven Ansätzen wie zum Beispiel die Frage nach Lebenssinn, Würde oder Dankbarkeit am Lebensende. Für viele Menschen ist zudem die Spiritualität oder die Religion eine wichtige Stütze.
Dank der ganzheitlichen Betreuung im Rahmen der Palliative Care können die meisten Menschen bis zum Schluss mit einer guten Lebensqualität leben.
1) Eine ausführliche Beschreibung von Palliative Care finden Sie hier.
2) Morphin ist ein nach dem Betäubungsmittelgesetz rezeptpflichtiges Medikament, das zur Linderung von starken Schmerzen und Atemnot eingesetzt wird.
3) Bruera E., MacEachern T., Ripamonti C., Hanson J. (1993): Subcutaneous morphine for dyspnea in cancer patients. Annals of Internal Medicine.