«Manche Menschen brauchen dringender Unterstützung als andere»
Menschen gleichen oder unterscheiden sich bezüglich Geschlecht, Alter, Herkunft, sexueller Orientierung, körperlicher und geistiger Fähigkeiten sowie Bildungsstand, Lebenssituation oder Wertvorstellungen. Im Umgang mit erkrankten Menschen sei das Bewusstsein für diese Diversität sehr wichtig, sagen Prof. Paola Origlia Ikhilor (POI) und Prof. Eva Soom Ammann (ESA), die beide an der Berner Fachhochschule (BFH) zu diesem Thema lehren und forschen.
Wie zeigt sich Diversität im Gesundheitswesen?
ESA: Gesundheit betrifft uns alle, deshalb kommen verschiedenste Menschen mit dem Gesundheitssystem in Kontakt, und alle gilt es bestmöglich zu versorgen. Dies ist jedoch nicht ganz einfach. Denn manche Unterschiede führen zu ungleichen Chancen auf Gesundheit und Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung.
Können Sie Beispiele nennen für diese Ungleichheiten?
POI: Ein grosser Stolperstein ist die sprachliche Verständigung: Versteht jemand eine Beratung oder Information nicht, wirkt sich dies direkt auf den Behandlungserfolg aus. Auch werden viele Studien mit männlichen Testpersonen gemacht. Therapiestandards sind deshalb primär auf Männer abgestimmt. Frauen reagieren oft anders auf Medikamente und sind dadurch benachteiligt.
ESA: Auch die finanziellen Möglichkeiten beeinflussen die Gesundheit und die Chancen auf Versorgung. Kann sich jemand beispielsweise nur eine schlecht instand gehaltene Wohnung neben einer Kehrichtverbrennungsanlage leisten, ist dies belastend für die Gesundheit. Und obwohl die Grundversorgung für alle gewährleistet ist, sind arme Menschen auch bei der Behandlung einer Krankheit benachteiligt: Sie haben weniger Möglichkeiten, sich über Angebote zu informieren und sich nach ihren Wünschen behandeln zu lassen.
Was braucht es, um die Chancengleichheit zu verbessern?
POI: Es braucht vermehrt Angebote, die spezifisch auf benachteiligte Zielgruppen ausgerichtet sind. Betroffene müssen zunächst überhaupt von den Angeboten erfahren, und diese müssen dann leicht zugänglich sein. Wichtig sind auch verständliche, einfach auffindbare Informationen und Dolmetschendendienste. Geschulte Peers können einen wichtigen Beitrag leisten. Aufgrund gleicher Lebensumstände oder gleicher Krankheitserfahrungen können sie Informationen auf Augenhöhe vermitteln und andere an ihrem Erfahrungswissen teilhaben lassen.
ESA: Solche zielgruppenspezifischen und vermittelnden Angebote sind aufwendig. Aber manche Menschen brauchen dringender Unterstützung als andere, damit sie ihre Chancen wahrnehmen können. Wollen wir Chancengleichheit, müssen wir als Gesellschaft immer wieder verhandeln, wo Ungerechtigkeiten entstehen und was wir für Gerechtigkeit einsetzen wollen – auch wenn dies mühsam ist. Zudem können wir Strukturen verändern und damit ebenfalls gerechten Zugang zum Gesundheitswesen fördern. Zum Beispiel, indem wir dieses übersichtlicher gestalten und Fachpersonen im Umgang mit Ungleichheit schulen.
Wie funktioniert das?
POI: Wir leben in einer komplexen Welt. Das Einteilen in Gruppen und Kategorien hilft uns, Entscheidungen zu treffen. Beim Kategorisieren besteht aber auch die Gefahr, dass wir Menschen falsch einschätzen. Uns allen passiert das. Und wir alle können unsere Zuordnungen zu Kategorien hinterfragen und damit Diversität besser anerkennen. Gesundheitsfachpersonen üben dies in ihren Ausbildungen, man nennt es transkategoriale Kompetenz.
ESA: Das heisst, dass Fachpersonen nicht vorschnell urteilen, sondern den Betroffenen gegenüber offen sind, Fragen stellen, auf ihre Bedürfnisse eingehen und ihnen auf Augen- höhe begegnen. Sie sind zudem sensibel gegenüber strukturellen Ungleichheiten, und sie sind fähig, ihre eigene Position und ihren Handlungsspielraum zu reflektieren. POI: Das ist nicht immer einfach im hektischen Alltag, aber trotz vielen Hürden können Fachpersonen einiges bewirken. Dieses Bewusstsein zu fördern, ist uns ein grosses Anliegen.