«Für mich gibt es nur noch gute Tage»
Wenige Sekunden nach dem Klingeln öffnet Sabine Bucher die Tür und weist den Weg in ihre Wohnung am Rand von Baden. An der Wand im Gang ist ein Spender mit Desinfektionsmittel installiert. Dieser hängt jedoch nicht erst seit der Corona-Pandemie dort; für Sabine Bucher gehören Desinfektionsmittel und Masken schon
Schicksalsschläge und eine Spätdiagnose
Um das Jahr 2008 hatte die damals 41-Jährige mit einigen Schicksalsschlägen zu kämpfen: Ihre Mutter war einige Jahre zuvor gestorben, ihr Vater brauchte vermehrt Betreuung, ihre Beziehung ging in die Brüche. Da sie als Versicherungsbrokerin, Gemeinderätin einer kleinen Gemeinde und leidenschaftliche Posaunenspielerin in einer Guggenmusik zudem stark ausgelastet war, führten sowohl Ärzte als auch sie selbst ihre zunehmende Antriebslosigkeit und den grossen Gewichtsverlust auf psychische Ursachen zurück; ihr wurde ein Burn-out attestiert. Nach einem Klinikaufenthalt begann sie, wieder zu arbeiten. «Wirklich besser fühlte ich mich jedoch nicht», erzählt Sabine Bucher. Sie sitzt an einem Holztisch in der hellen, relativ karg eingerichteten Wohnung.
«Nächtelang nicht geschlafen»
Als ihr 2009 eine schwere Erkältung mit starker Atemnot zu schaffen machte, ging sie erneut zum Arzt. Diesem teilte sie mit, dass bei ihrer Schwester kürzlich ein Alpha-1-Antitrypsin-Mangel festgestellt worden war (siehe Kasten). Weitere Abklärungen führten zu Klarheit: Sie litt an derselben seltenen Erbkrankheit wie ihre Schwester. Über Jahre hinweg hatten die weissen Blutkörperchen ihre Lungenbläschen angegriffen und beschädigt. «Es war ein Schock. Die Krankheit hat sich unbemerkt ausgebreitet und ich habe nach und nach mein Leben angepasst ohne zu merken, wie schlecht es um meine Lunge steht», erzählt Sabine Bucher. In den folgenden Wochen erlitt sie Todesängste. «Nächtelang habe ich nicht geschlafen, weil ich Angst hatte, im Liegen zu ersticken.» Eine grosse Unterstützung in dieser Zeit war ihr heutiger Ehemann Joe, ein langjähriger Freund, mit dem sich nach und nach eine Liebesbeziehung entwickelte. «Er war optimistisch, motivierend und nahm alles mit einer grossen Portion schwarzem Humor», sagt Bucher. So habe er – wie es andere in den Ferien tun – ein Selfie gemacht bei jeder Notfallaufnahme. Und davon gab es für Sabine Bucher einige.
Ein trauriger Zufall
Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Spitalaufenthalt vom Herbst 2016. Der Zufall wollte es, dass ihre Schwester, die einige Jahre zuvor eine Spenderlunge erhalten hatte, zur selben Zeit im Spital war. «Ich lag selbst noch im Bett, als ich erfuhr, dass meine Schwester gestorben war; es hatte Komplikationen mit dem neuenOrgan gegeben.» Sabine Bucher bricht abrupt ab, steht auf und holt in der Küche ein Taschentuch.
Grosse Unterstützung durch die Lungenliga
Dass sich Sabine Bucher trotz ihrer grossen Angst auf die Warteliste für eine Spenderlunge setzen liess, war die Folge eines Pneumothorax im Frühling 2018, bei dem Luft zwischen die Lunge und die Brustwand gelangte. «Nach der Notfalloperation konnte ich nicht mehr ohne zusätzlichen Sauerstoff leben, ich brauchte eine Sauerstofftherapie.» In dieser Zeit wurde die Lungenliga Aargau, die Sabine Bucher seit 2012 unterstützt, besonders wichtig für sie. Eine Beraterin der Lungenliga instruierte sie im Umgang mit ihrem Sauerstoffkonzentrator. Besonders schätzte Sabine Bucher auch die hilfreichen Tipps, welche ihr die Fachpersonen der Lungenliga Aargau gaben. «Ich hatte in meiner Wohnung zu viele Staubfänger. Zudem hat mir die Beraterin gezeigt, wie ich meinen Tagesablauf kräftesparend organisieren kann.» Auch bei der Planung von Ferienreisen habe sie die Lungenliga unterstützt.
Warten und hoffen
Um für eine allfällige Operation möglichst fit zu sein, ging Sabine Bucher regelmässig zur Atem- und zur Physiotherapie. «Ich habe versucht, eine allfällige Transplantation so gut wie möglich auszublenden. Ansonsten hätte ich das Warten, das Hoffen und gleichzeitig die Angst davor kaum ausgehalten», erzählt Sabine Bucher.
Während des Sprechens faltet sie das Taschentuch zusammen, streicht mit den Fingern die Kanten glatt, öffnet es dann wieder. An ihrem Finger glänzt ein silberner Ring, um den Hals trägt sie eine feine, silberne Kette mit einem Stern. Etwas unerwartet erhielt sie am 18. April 2019 die Nachricht, dass es eine Spenderlunge für sie gibt. Noch am selben Abend begab sie sich ins Spital.
Eine Sauerstoffsättigung von 99 Prozent
Als sie nach der Operation aufgewacht sei, habe sie zunächst nur die starken Schmerzen wahrgenommen, sagt Sabine Bucher. «Bis zu dem Moment, als das Pflegepersonal mir die Sauerstoffbrille abnahm und mein Mann auf den Monitor deutete: Die Sauerstoffsättigung betrug auch ohne Brille 99 Prozent.» Erneut kullern ihr Tränen über die Wange, diesmal jedoch aus Freude. «Vor der Operation wollte ich jeweils gar nicht aufstehen. Heute möchte ich jeden Morgen um 6 Uhr aus dem Bett, um den Tag zu geniessen. Für mich gibt es nur noch gute Tage.»
Posaune spielen ist wieder möglich
Nach wie vor geht Sabine Bucher in die Physiotherapie und ist viel in Bewegung, am liebsten im nahe gelegenen Wald. Mittlerweile geht es ihr sogar so gut, dass sie mit dem Gedanken spielt, sich wieder eine Posaune zu kaufen. «Ich hatte meine Leidenschaft aufgegeben und die Posaune verschenkt. Nun spaziere ich oft an einem Musikgeschäft vorbei und schaue, was es dort so gibt.»
Trotz ihrer Dankbarkeit gibt Sabine Bucher unumwunden zu, dass eine Transplantation auch Schattenseiten hat. «Ich habe erst nach einem Jahr gemerkt, dass es auch eine Hypothek ist», sagt sie und holt eine weisse Box aus der Küche. Diese ist bis oben hin gefüllt mit verschiedenen Medikamenten, die sie täglich nehmen muss.
Keine Angst mehr vor Mäusen und Spinnen
Sabine Bucher weiss nicht, von wem sie ihre Lunge erhalten hat. Als Zeichen der Dankbarkeit hat sie die silberne Kette mit dem Stern gekauft, die sie seitdem trägt. Ebenfalls schreibt sie eine Karte an die ihr unbekannten Angehörigen. «Ich liste alles auf, was mir dank der Spenderlunge nun wieder möglich ist. Es ist jedoch ein langer Prozess.» Manchmal möchte sie schon wissen, wer der Mensch gewesen sei, der nun auch ein Teil von ihr sei. «Seit der Transplantation traue ich mir beim Autofahren mehr zu. Auch habe ich keine Angst mehr vor Mäusen und Spinnen. Ich kann es mir auch nicht erklären, aber es ist so», sagt sie. Rückblickend sieht Sabine Bucher trotz der schweren Zeiten auch Gutes. «Ohne meine Krankheit hätte ich vieles nicht erlebt. Wer so langsam durchs Leben geht, sieht auch mehr.»
Ein Gendefekt, der die Lunge angreift: Alpha-1-Antitrypsin-Mangel
Alpha-1-Antitrypsin ist ein Protein, das in der Leber gebildet wird und in der Lunge eine wichtige Schutzfunktion hat: Dort produzieren die weissen Blutkörperchen spezielle Stoffe, die Krankheitserreger aus der Atemluft abwehren, jedoch auch körpereigenes Gewebe angreifen können.
In einer gesunden Lunge sorgt Alpha-1-Antitrypsin dafür, dass die Lungenbläschen dabei nicht zu Schaden kommen. Wird aufgrund eines seltenen Gendefekts kein oder zu wenig Alpha-1-Antitrypsin gebildet, greifen die weissen Blutkörperchen – zum Beispiel bei Atemwegsinfektionen – die Lungenbläschen an und zerstören diese allmählich. Die Folge ist eine Überblähung der Lunge, ein sogenanntes Lungenemphysem.
Mehr Informationen: www.lungenliga.ch/alpha-1-antitrypsin